Pioniere der Anthroposophie im Osten
Eine Delegation der AGiD reist nach Georgien. Ein Bericht mit kurzen Eindrücken von Teilnehmenden.

Am Montag, den 15. August sind wir in den Flieger gestiegen. Motiviert wurde diese einwöchige Reise durch verschiedene Kontakte, von Georgiens Landesvertreter in Dornach, Nodar Belkania, über Matthias Valentin, der in Georgien Aufbauhilfe leistet und dort ein Weleda-Ableger betreibt und die Produkte in Drogerien und Arztpraxen vertreibt. Außerdem hatten wir Kontakte zu jungen Anthroposophen über die Jugendsektion in Dornach und wussten, dass dort eine Initiative der Jugendsektion startet. Mitreisende waren jüngere Menschen, die sich durch den „Jugend-Initiativkreis der AGiD“ um Jugendkontakte bemüht. Das waren: Matthias Niedermann, Sebastian Knust, Lisa van Holsteijn und Johann Schmiedehausen und ich selbst als Vermittler und Förderer von Jugendinitiativen.
Morgens früh am 16. August wurden wir vom Flughafen abgeholt und zur Christengemeinschaft gebracht. Dort hatten wir das Quartier unserer Reise. Nargisi Tizlarishvili, eine strahlende, uns versorgende Priesterin, begrüßt uns um 4.00 Uhr nachts als Gastgeberin. Die Christengemeinschaft mit ihren zwei Priestern ist der Dreh- und Angelpunkt für georgienreisende Deutsche, die sich dort die Türklinke in die Hand geben. Im Stadtzentrum von Tiflis, von außen recht sanierungsbedürftige, alte Häuser, öffnet sich die Tüte zu einem traumhaften, bewachsenen Innenhof mit Bänken zum Verweilen und genügend Schatten. Die Georgier sind beeindruckende Gastgeber und zum Frühstück gab es einen riesigen Tisch mit Obst, Eiern, Pfannekuchen, Gebäck, Brot, Marmeladen, Joghurt usw. Man kann das alles gar nicht essen, aber es ist ein Usus dort, die Gäste reichhaltig zu versorgen. Irgendwie alles paradiesisch. Das Gebäudearsenal besteht aus drei Wohnungen, sechs Gästezimmern und dem neu gebauten Sakral-Raum für die Weihehandlung.
Wer als Deutscher Georgien besucht (was wir hiermit wärmstens empfehlen) kann den Eindruck haben, dass wir hier in Mitteleuropa sind. Die christlichen Kirchen prägen das Bild und sind in jedem Stadtteil und auf allen Hügeln zu finden. Vom digitalisierten Bank-System, über die Verkehrsmittel, Einkaufsmeilen und den Autoverkehr - alles wie in Wien, Budapest oder Prag. Die sanften, bewachsenen Hügel, der Wald und die Ackerflächen und die grünen Weiden – ich hatte manchmal den Eindruck, dass ich zuhause in Deutschland im Siebengebirge bin. Dann aber auch wieder weite, steppenartige Landschaft und im Norden steigt es bis in die Schneeregion des Kaukasus an. Zwischen Schwarzem Meer, Ukraine und Russland im Norden, Türkei im Westen und Armenien und Aserbaidschan im Süden ist es schon merkwürdig, hier auf ein europäisches Land zu treffen. So fühlen sich die Georgier aber auch: Wir gehören zu Europa! Ihre große Sorge ist, dass Russland aus dem Norden noch weitere Provinzen Georgiens unter seine Herrschaft stellt.
Wir haben ein gefülltes Reiseprogramm und besuchen viele anthroposophische Einrichtungen, die oft sehr improvisiert als Kleinsteinrichtungen in der Heilpädagogik, Sozialtherapie, Landwirtschaft, Medizin, Kunst und Pharmaunternehmen entstanden sind. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion, also nach 1990, sind inzwischen ca. 30 Einrichtungen aus der Anthroposophie entstanden. Das Haus der Anthroposophischen Gesellschaft ist ebenfalls mitten in Tiflis zu finden. Ein sanierter Altbau mit deutlichen Gestaltungselementen (siehe Foto). Die Waldorfschule in Tiflis ist hier eine Ausnahme. Ein großer, neugebauter Gebäudekomplex beherbergt die 400 Schüler, die von ca. 40 Lehrern betreut werden. Wenn man aber hinter die Kulissen schaut, sieht man, dass vieles auf ehrenamtlichem Engagement gegründet ist. Viele Lehrer*innen brauchen einen Zweitjob, um Leben zu können. Das monatliche Durchschnittsgehalt liegt bei ca. 1.500 Lari, das sind lediglich 500 Euro! Manchmal fragt man sich, wovon lebt man hier eigentlich? Aber irgendwie scheint es zu funktionieren. Ich könnte noch viel beschreiben von den heilpädagogischen, sozialtherapeutischen Einrichtungen, Waldorfkindergärten und so weiter. Alles Pionierleistungen auf geringem finanziellem Niveau. Wenn man nach den Kosten für die Erstellung der Gebäude fragt, lautet die Antwort oft: „Die Software-Stiftung aus Deutschland.“
Die Anthroposophische Gesellschaft in Georgien hat ca. 250 Mitglieder. Davon besuchen ca. 20 bis 30 regelmäßig das Zweighaus in Tiflis. Zu Vorträgen und Veranstaltungen kommen 50 bis 70 Menschen. Und es gibt eine aktive Jugendgruppe. Einige von ihnen haben bei Nodar Belkania an der Uni Psychologie oder Organisationsentwicklung studiert und bilden jetzt die Jugend-Arbeitsgruppe „Dreigliederung“ in Tiflis im dortigen Steiner-Haus. Daraus ist die „Youth Society Parzival“ entstanden. Kontakte zur Jugendsektion in Dornach und zum Jugendseminar in Stuttgart haben sie motiviert, in den letzten Monaten ein Jugendhaus zu bauen. Wir fahren ca. 60 km aus Tiflis heraus und befinden uns in einer idyllischen Wald-Wiesen-Landschaft. Die Frage, was in der Corona-Zeit sinnvolles geschehen könnte, führte bei ihnen zu dem Bauimpuls. Jetzt steht hier auf der Wiese ein Kulturhaus mit Seminarraum, Wohn-Küche und Gemeinschafts-Schlafraum. Zehn 25-jährige haben in nur einem Jahr einen Jugendort geschaffen für Freizeitschule, Reiterhof und Jugendseminar. Die Menschen sind innerlich durchglüht mit ideellen Anliegen, aber auch Praktiker, durch und durch. Und so was von sozialkompetent, mit einer berührenden, liebevollen Ausstrahlung. Mit anderen Worten: „Der Gral liegt im Osten“! Das hatte Frank Teichmann schon vor 30 Jahren entdeckt und darüber sein Buch in der Reihe „Der Mensch und sein Tempel“ geschrieben. Hier findet sich eine christlich durchdrungene Sozialkompetenz, die durch die Anthroposophie neu entdeckt wurde. Ein junger Student der Uni Tiflis, den wir zufällig in der Stadt trafen, meinte: Die Anthroposophie ist nach dem Ende des Sozialismus der neue Lichtblick im Osten. Wir waren erstaunt, dass so kleine, verstreute Initiativen auch „auf der Straße“ bei Nicht-Anthroposophen bekannt sind und den Menschen Hoffnung machen. Bei uns blieb der Eindruck: Jede Unterstützung für die Anthroposophie in Georgien ist Gold wert, menschliches, ethisches, soziales und ökologisches Gold. Vielleicht gibt es ja Zweige in Deutschland, die eine Partnerschaft mit Georgien ermöglichen wollen? Wir jedenfalls hatten den Eindruck: Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Georgien hat für uns jetzt begonnen.
Michael Schmock | AGiD Generalsekretär
„Ein Paar Tage vor meiner Abfahrt wurde ich plötzlich unsicher ob ich wirklich mitfahren sollte. Georgien ist bestimmt ein spannendes Land, aber was habe ich mit Georgien zu tun? Schon um 4:00 Uhr morgens bei Ankunft am Tbilisi Flughafen bei der ersten Begegnung mit dem Priester aus Tiflis, der uns abholte, erlebte ich sofort eine Verbundenheit. Sein warmes Lächeln ließ mich willkommen fühlen und innerhalb wenige Minuten teilten wir Geschichten über das Priesterseminar Stuttgart aus, wo er studiert hatte. Jeder Tag brachte mehr solcher Begegnungen mit sich. Die Geschichten von Marina Bulja über das erste sozialtherapeutische Heim in den Zeiten der Sowjetunion, ohne Heizung mit wenig Essen und nur die innere Überzeugung ihrer Aufgabe, ließ mich mit neuen Augen meine Kindheit in Camphill, Schottland anschauen. Auch die Lehrer der Waldorfschulinitiativen zu erleben, wie sie für die Waldorfpädagogik kämpfen und so viel opfern, um in diesen Schulen mitzuwirken, hat mich als werdende Lehrerin sehr inspiriert und mich befeuert, auch selbst für die Waldorfpädagogik zu kämpfen. Auch auf der Straße hatte ich erstaunliche Begegnungen mit fremden Menschen, die mir ihre Verbindung mit der Anthroposophie mitteilten. Außerhalb einer Kirche erzählte mir zum Beispiel ein Mann, dass die Anthroposophie das erste Licht war, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion den georgischen Menschen aufleuchtete, Mut und Vertrauen brachte. Außerdem sagte er mir: „Ich wäre so gerne Waldorfschüler gewesen!“ So berührten mich die Begegnungen mit den einzelnen Menschen. Immer wieder flossen Tränen der Verbundenheit und Schönheit.
Danke, ihr vielen lieben Menschen, denen wir begegnet sind. Ich habe viel von euch lernen dürfen. Ich hoffe, wir werden uns in der Zukunft weiterhin gegenseitig inspirieren und freue mich schon sehr auf die mögliche zeitnahe Zusammenarbeit mit der Youth Society Parzival! Danke Georgien.“
Lisa van Holstein, Mitglied des Jugend-Initiativkreises der AGiD
„Mich beeindruckte an der Jugendgesellschaft Parzival besonders ihre Eingebundenheit in ihr soziales Umfeld. Ihr eigenständig errichtetes Gebäude steht prominent in der Kurve einer Straße zu einem kleinen Bergdorf. Die Leute hupen beim Vorbeifahren, aus Freude über ihre Initiativkraft, so erklärten mir die jungen Erwachsenen. Die Kinder der Umgebung kamen nachmittags zum Volleyballspielen vorbei. Ein Freund, der wenige Tage später im Rahmen einer ukrainisch-russischen Begegnung dort war, erzählte, dass die Kinder sogar mit Beuteln zum Müllsammeln gekommen seien. Diese jungen Erwachsenen können nicht nur ihre Vorhaben umsetzten, sie wissen auch ihrer Umgebung ihr Anliegen verständlich zu machen. Zwei wichtige Voraussetzungen für ihr Vorhaben sind damit erfüllt. Ich wünsche ihnen herzlich gutes Gelingen für ihre nächsten Schritte.“
Johann Schmiedehausen, Mitglied des Jugend-Initiativkreises der AGiD
„Quedeli - hoch auf einem Hügel in der ostgeorgischen Provinz Kachetien gelegen, mit Blick auf eine weite fruchtbare Ebene und die majestätischen Gipfel des Kaukasus in der Ferne - ist eine der ersten sozialtherapeutischen Einrichtungen in Georgien. Mich beeindruckte bei unserem Besuch dort einerseits die imposante Lage, vor allem aber der Mut und die Tatkraft der Gründungspersönlichkeiten - in einem Land, in welchem die Fürsorge für behinderte Menschen, vor allem im Erwachsenenalter, alles andere als selbstverständlich ist und mit Widrigkeiten bis ins Finanzielle hinein und der Sorge um eine geeignete Nachfolge zu kämpfen hat. Zutiefst berührte es mich, die Betreuten singen zu hören. Die Leiterin von Quedeli, eine passionierte Musikerin und Dirigentin, die Ende der 1990er Jahre ihre bisherige Tätigkeit aufgegeben hatte, leistet dort mit den Betreuten eine unglaublich wertvolle musikalische Arbeit. Die Menschen mit ihren kraftvollen, reinen, unverstellten Stimmen singen zu hören, einstimmig und mehrstimmig, war ein unvergessliches Erlebnis. Als dann auch unsere Gruppe ein paar Lieder vortrug und wir zu guter Letzt noch gemeinsam mit den Betreuten ein paar afrikanische Lieder sangen, war eine klingende Herzensbrücke gebaut, die sicherlich allen in tiefer Erinnerung bleiben wird. Ich wünsche diesem Ort und den Menschen dort viel Kraft, Mut und Unterstützung für die Zukunft!“
Lena Sutor-Wernich, Sängerin, Freies Jugendseminar Stuttgart
„Ziel meiner Reise war , die Gründung eines zukünftigen Jugendseminars in Georgien zu unterstützen. Dabei beeindruckten mich die Schönheit der Orte, an denen dies stattfinden soll, die Sorgfalt in der Planung von der Idee über die Struktur bis zur möglichen Finanzierung, das künftige Curriculum und vor allem die Initiatoren. Ich konnte sie auf einer gemeinsamen Exkursion nach Westgeorgien u.a zur einstmals sehr berühmten Akademie von Gelati noch besser kennen lernen und neben der Tiefe und dem Ernst im Gespräch für ihr Land etwas Wesentliches bewirken zu wollen, konnten wir auch herzlich miteinander lachen und singen. Dieses Team aus jungen Menschen (alle Mitte 20) strahlt eine erstaunliche Ruhe und Reife aus. Es fällt mir leicht, ihnen alle erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen und das Know-How des Freien Jugendseminars Stuttgart zur Verfügung zu stellen. Es zeichnet sich eine fruchtbare Verbindung zwischen Deutschland und Georgien ab, ebenso wie eine intensive Zusammenarbeit verschiedener Generationen ganz im Sinne der „geistigen Wirkenskräfte im Zusammenleben alter und junger Generation“! Noch braucht es sorgfältige Vorbereitung, aber der Start des Seminars wird an Ostern 2023 stattfinden. Möge es auch viel Unterstützung aus Deutschland erhalten!
Marco Bindelli, Leiter des Freien Jugendseminars Stuttgart
„Besonders berührt hat mich auf der Georgienreise die Klarheit und Tiefe und gleichzeitig die engagierte und reife Gemeinschaft der jungen Menschen der Youth Society Parzival! Die tiefe Verbundenheit mit dem Seelisch-Geistigen im Menschen, die vielfältige internationale Vernetzung und die positive Impulskraft dieser jungen Menschen haben eine Energie freigesetzt, die „mal eben“ ein eigenes Gebäude ermöglichte und davon ausgehend eine Vielzahl an Perspektiven eröffnet. Dieser Impuls hat die Qualität, Vorbild zu sein für viele anthroposophische Initiativen. Danke Euch und weiter so!“
Sebastian Knust, AGiD, Öffentlichkeitsarbeit und Projektmanagement
Mehr Infos und Kontakt zur "Youth Society Parzival"
Facebook-Seite: https://www.facebook.com/YouthSocietyParzival/
Youtube-Film über den Hausbau: https://www.youtube.com/watch?v=jQw8fMvep5c
Mariam Kvirtia von der Parzival-Initiative: parzivalsociety @gmail.com